Sonntagskonzerte 2024 - Rezensionen

Sonntagskonzert Nr. 1 I Mitten im Leben

Es ist ein winterlicher Nachmittag in Berlin und vorsichtig schlittere ich durch den Tiergarten zur Philharmonie. Als herausragende Events des Chorverbands Berlin sind die Sonntagskonzerte im Kammermusiksaal eine fester Bestandteil der Berliner Kulturlandschaft geworden und bieten nicht nur den Chören ein einzigartiges Podium, sondern den Zuhören auch immer neue Einblicke in die bunte Chorlandschaft dieser Stadt. An meinem Sitzplatz angekommen, genieße ich die beeindruckende Atmosphäre des Saals und werfe einen Blick ins Programmheft. „Mitten im Leben“ - drei Worte und kein Untertitel. Schnell wird ersichtlich, dass nicht nur der Name des Programms wohl überlegt ist. Liest man die Vorstellungen der drei Chöre, so findet man in jeder schon thematische Bezüge zum einleitenden Programmtext. be:one als in vielerlei Hinsicht aktiver Popchor am Georg-Friedrich-Händel-Gymnasium, die JazzVocals Berlin als selbst aus einem Schulchor heraus entstandener Klangkörper und die Chorgemeinschaft „pro musica“ Treptow als einer der größten Senior:innen-Chöre Berlins, bringen gemeinsam ganze 92 Jahre Chortradition auf die Bühne. Einander zuhören und miteinander ins Gespräch kommen wollen diese drei Chöre aus drei Generationen.

Nach einem weltoffen klingendem, kraftvollen „Vindo“ aus den Kehlen von be:one unter Leitung von Vera Zweiniger und Manuel Haase stellt sich das Moderator:innen-Team vor. Aus jeder Generation werden wir als Publikum von einem Menschen durch den Abend begleitet werden. In kleinen Interviews stellen sie sich auch gegenseitig Fragen, von Mensch zu Mensch und von Generation zu Generation. Auch hier spürt man die gute konzeptionelle Vorbereitung, die für diesen Nachmittag allen drei Chören den Rahmen bietet für ein abwechslungsreiches Programm und die eigenen Themen ihrer Generation.

be:one lassen mit einem hervorragend intonierten “Dat du min Leevsten büst” die Wirrungen der jungen Liebe aufleben und feiern mit “Dance!” ausgelassen ihre Jugend. Die JazzVocals Berlin unter Leitung von Matthias Knoche beschreiben mit gekonnt bluesigem Feel in “Still Crazy After All These Years”die Sentimentalität des mittleren Alters und geben mit einem rhythmisch und harmonisch komplexen “Yaninku” des bulgarischen Komponisten Kiril Todorov einen Einblick in die Herausforderungen des Elternseins.

Dann gehört die Bühne ganz “pro musica” unter der Leitung von Christian Höffling, der gekonnt humorvoll durch das Programm seines Chores leitet. Mit Klassikern wie “Über sieben Brücken” und “Alt wie ein Baum” zeigen sich die gut 60 Sänger:innen fröhlich, nachdenklich und strahlen dabei eine Lebensfreude aus, der man sich einfach nicht entziehen kann. 90 Jahre ist das älteste Chormitglied auf der Bühne und zum ersten Mal in der Chorgeschichte singen sie das komplette Programm auswendig. Eine besondere Herausforderung, wenn man 80 und nicht 18 Jahre alt ist, wie Höffling passend betont. Und so geben “pro musica” humorvoll ein nicht nur auf die Pandemie bezogenes “Hurra, wir leben noch” zum Besten und schließen ihren Konzert-Teil mit “Ihr von morgen” von Udo Jürgens an die nachfolgenden Generationen gewandt.

Dann füllt sich die Bühne, um das Publikum mit einem Lied für die Erde, “Aye Kerunene”, gemeinsam in die Pause zu begleiten. Beeindruckt von einer so herzlichen und bewegenden ersten Konzerthälfte, erlebe ich im Foyer etwas Unerwartetes. Mama und Papas, Omas, Opas und Jugendliche beschäftigt neben den munteren Gesprächen über das Konzert vor allem ein Thema: wäre es nicht eine gute Idee die Enkelkinder oder auch Großeltern in einem Chor anzumelden? Rege Diskussionen und die ein oder andere praktische Vermittlung finden bereits statt.

Mit dem traditionellen kongolesischen Versammlungsruf “Ama Ibuo Iye” eröffnen alle drei Chöre gemeinsam die zweite Hälfte und dramaturgisch gekonnt schließen die JazzVocals mit ihrem liebevolle Gedenken an “Grandma’s Hands” nahtlos an. Mit einem berührend ruhigen “Mercy of Sleep” und dem deutschen Volkslied “Es saß ein klein Wildvögelein” machen die JazzVocals ihre künstlerischen und musikalische Stärken deutlich. Aber auch in ihren Moderationen sind sie nicht auf den Mund gefallen und so wird ihr Aufruf zu Weltoffenheit, und Toleranz in Solidarität zur zeitgleich wenige hundert Meter entfernt stattfindenden Demonstration gegen Rechts zu einer der stärksten Momente im Konzert.

Das nach Worten suchende “Mironczarnia” des polnischen Komponisten Jakub Neske wird in der Interpretation der JazzVocals zum musikalischen Highlight des Abends und erntet langanhaltenden Applaus. Und der will nicht abebben, als be:one wieder die Bühne betreten. Sie lassen keinen Zweifel daran, dass sie einer der besten Jugendchöre der Stadt sind. Nicht nur musikalisch, denn auch die Präsentation und Choreografie bringen den Saal in Schwung und man merkt, dass hier neben jugendlicher Energie auch ein routinierter Umgang mit Konzerten auf der großen Bühne gepflegt wird. Mit “Never Gonna Not Dance Again” zeigen be:one sich mit aktueller Popmusik in ihrem Element und huldigen mit einem hochenergetisch und humorvoll präsentierten Medley der Musik der Neuen Deutschen Welle.

Nach einem bejubelten “Come Alive” aus “The Greatest Showman” bittet das Moderator*innen-Team nochmals alle drei Chöre auf die Bühne, die mit so vielen Sänger:innen wohl kaum in einem Sonntagskonzert so voll war. Gemeinsam beenden be:one, die JazzVocals und pro musica den Abend mit “Wenn ein Mensch lebt” und verleihen ihrer Lebensfreude noch einmal Ausdruck. Langanhaltender Applaus und Standing Ovations führen dann auch zur kurzerhand als Zugabe erklärten Wiederholung von “Aye Kerunene” aus der ersten Konzertteil.

Warmherzig, menschlich und musikalisch beeindruckend und liebevoll gestaltet - so bleibt dieser Konzertnachmittag nicht nur in meiner Erinnerung. Nicht nur dabei, sondern mittendrin.

Rezension: Tanja Pannier


Sonntagskonzert Nr. 2 I Wurzeln

Die Suche nach dem Ursprung…

Drei sehr unterschiedliche Berliner Chöre finden Gemeinsamkeiten auf einer musikalischen Spurensuche nach den eigenen Wurzeln.

Das zweite Konzert der diesjährigen Sonntagskonzertreihe des Berliner Chorverbandes stand im Zeichen von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den drei beteiligten Chören. Ein bulgarisches Folklore Ensemble, ein Chor mit australischem Kernrepertoire und ein Studentenkammerchor fanden als gemeinsame Basis die Liebe zur Musik und eine klar definierte eigene Identität, die durch die Reflexion der eigenen Herkunft – den persönlichen Wurzeln – entstanden war.

Beim bulgarischen Chor Bulcanto sind die Wurzeln der Chorleitenden und der Sänger:Innen Anlass für die Repertoirewahl. Es erklangen bulgarische Volklieder und orthodoxe Sakralmusik, die landestypisch mit einer kleinen Percussion-Combo musiziert wurden. Die Chorleiterin Boryana Velichkova nutzte ihre fundierten Repertoire- und Stilkenntnisse, um den Chor zu einer überzeugenden Leistung innerhalb dieses besonderen Gesangsstils zu animieren und führte das Ensemble mit gelassener und gleichzeitig konzentrierter Klarheit. Die Verbindung von bulgarischer Folklore und orthodoxer Sakralmusik erwies sich als wesentlicher Impuls für die Suche nach dem Ursprung des eigenen musikalischen Ausdruckswillens.

Der Chor tonraumfünf10 unter der Leitung von Christopher Bradley hatte sich in den letzten Jahren auf australische Chormusik spezialisiert, da Bradley als gebürtiger Australier einen direkten Zugriff auf diese Musik bieten konnte. So präsentierten sie unter anderem eine Uraufführung des 1982 geborenen australischen Komponisten Joseph Twist, die sich mit dem Wattle Baum -dem nationalen Baum Australiens- beschäftigt und damit den Titel des Konzertes auch dem Wortsinn nach auf die Bühne brachte. Durch erläuternde Ansagen wurden dem Konzertpublikum diese Bedeutungsebenen erfreulicherweise direkt erschlossen. Der Chor trat dabei nicht nur barfuß, sondern auch auswendig singend auf und konnte durch seinen emotional direkten Zugang überzeugen.

Nach der Konzertpause eröffnete das Collegium Musicum unter Donka Miteva mit Gustav Mahlers Urlicht in der Bearbeitung von Clytus Gottwald. Der besondere Zauber der Eröffnungsworte wurde von den Ausführenden durch eine äußerst gespannte Ruhe zelebriert, der sich nur einige im Publikum anwesende Kleinkinder entziehen konnten. Darüber hinaus präsentierte das gewohnt hochwertig agierende Collegium Musicum ein kontrastreiches Programm von Schnittkes Drei geistliche Gesänge über Albert Beckers Ich hebe meine Augen auf bis hin zu einer aktuellen In taberna Komposition des 1991 in Zakopane geborenen Michał Ziółkowski, das eine vielschichtige Beschäftigung mit unterschiedlichsten Wurzeln und deren Bedeutungsschattierungen andeutete und zu weiterführendem Nachdenken anregte.

Der Konzertnachmittag schloss mit Volksmusik von den Torres Strait Inseln -einer nord australischen Inselgruppe- und aus Bulgarien. So wurde dem Konzert ein passender Abschluss gegeben, der von allen drei Ensembles gemeinsam dargeboten wurde. Dabei war zu spüren, dass die drei Chöre trotz unterschiedlicher Wurzeln und daraus gewachsenen Biografien und Ansichten, in der Zusammenarbeit eine starke gemeinsame Basis aufgebaut und eine echte Verbindung zueinander hergestellt hatten. Die Suche nach den Wurzeln erwies sich als beflügelndes Ereignis, das von dem zahlreich erschienenen Publikum mit frenetischen Standing Ovations goutiert wurde. Somit stellte sich das zweite Konzert der Sonntagskonzertreihe 2024 als fruchtbares Experiment mit gelungenem Ausgang dar.

Rezension: Nils Jensen